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Hofe

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Dorfbewohner „hängen“ an ihrem Ort – auch wenn sie zum

Arbeiten oder Einkaufen regelmäßig in die Stadt fahren.

Außerdem sind sie in der Regel hochgradig mit ihrem länd-

lich-lokalen Lebensumfeld zufrieden. Wie ist das zu erklä-

ren? Ortsbezogenheit und Zufriedenheit sind emotionale

Kraftquellen für viele Dorfbewohner. Und darüber hinaus

ein weicher Wirtschaftsfaktor, weswegen sich Unternehmen

gern im ländlichen Raum ansiedeln.

Kein soziales System kann existieren ohne räumlichen

Bezug. Dies gilt in besonderem Maße für die bodenabhän-

gigen und bodennahen ländlichen Gesellschaften. Die Be-

ziehung der Bevölkerung zu ihrem Wohnumfeld oder

Wohnort bezeichnet man als „Ortsbezogenheit“ oder „lo-

kale Identifikation“. Dies bedeutet, vertraut zu sein, sich

heimisch zu fühlen, Bescheid zu wissen, sich sicher zu füh-

len, zufrieden zu sein. Die Identifikation mit einem Dorf

zeigt also an, dass der Bewohner ein inneres Verhältnis

dazu hat, dass es „sein“ Ort ist.

Die Ortsbezogenheit hat sowohl abgrenzende als auch po-

sitiv emotionale Aspekte. Die Abgrenzung und Rivalität ge-

genüber Nachbardörfern (analog dem Revier im Tierleben)

hat auf dem Land eine lange Tradition. Sie war in manchen

ländlichen Gebieten so stark, dass junge Burschen, die sich

in ein benachbartes Dorf wagten, Prügel einstecken muss-

ten. Ich habe es in den 1950er Jahren noch selbst erfahren.

In anderen Regionen mussten junge Männer, die in einem

fremden Dorf mit einem Mädchen anbändeln wollten, an

die dortigen Altersgenossen ein sogenanntes „Jagdgeld“

entrichten, quasi als Gebühr für das Eindringen in ein frem-

des Hoheitsgebiet. Diese Zeiten sind heute weitestgehend

Geschichte. Der kritisch beobachtende Blick auf das Nach-

bardorf ist jedoch geblieben. „Duelle“ von Nachbardörfern

spielen heute allenfalls noch beim Zusammentreffen der

Fußball-, Handball- oder Tischtennismannschaften in der

Kreisliga eine Rolle. Die Hochschätzung und Bewahrung

des lokalen Territoriums wird manchmal als „Kirchturmpo-

litik“ negativ bewertet. Doch man sollte diesen Begriff auch

positiv sehen. Die lokale Identifikation ist wahrscheinlich

eine der wesentlichen Kraftquellen für die vielfältigen En-

gagements der Dorfbewohner in der Kommunalpolitik

sowie in den traditionellen Dorfvereinen oder neuen Bür-

gervereinen.

Die emotionale Ortsbezogenheit, man nennt es auch Hei-

matgefühl, entwickelt sich aus den persönlichen und ge-

meinsamen Erlebnissen im eigenen Dorf. Hier spielen

Erinnerungen an Orte und Begebenheiten eine große Rolle:

an Elternhaus, Schule, Kirche, Friedhof, Spielplätze, Tanz-

saal, an Feste und Freundschaften oder auch Unfälle und

Krankheiten. Man erinnert sich an die Zeiten als Messdie-

ner, den ersten Auftritt im Jugendorchester des Musikver-

eins, an die Kreismeisterschaft im Fußball oder das erste

Schützenfest. Man kennt wichtige Ereignisse aus der Dorf-

geschichte: Dorfbrände oder Überschwemmungen, den Bau

der Dorfkirche, des Bahnhofs oder des Wasserturms. Man

weiß, welche Dorfvereine im Moment besonders aktiv oder

erfolgreich sind, und ist stolz darauf. Die starke emotionale

Bindung an das Dorf fördert die Bereitschaft vieler Dorfbe-

wohner, jetzt oder später etwas für den eigenen Ort zu tun.

Doch kann man den Grad der lokalen Identifikation mes-

sen? So wurden in dem etwas abgelegenen Dorf Elsoff

(Kreis Siegen in Nordrhein-Westfalen, etwa 850 Einwohner)

in den letzten 30 Jahren mehrfach Untersuchungen zur Orts-

bezogenheit durchgeführt. Auf die Frage nach ihrem Wohn-

ort nach Wunsch bezeichneten jeweils zwischen 85 und 90

Prozent der Befragten das Dorf als den bevorzugten Wohn-

orttyp, der Rest favorisierte die Kleinstadt. In einer kürzli-

chen 1Live-Umfrage unter jungen Leuten wurde die Frage

gestellt: „Was findet Ihr besser: Leben in der Stadt oder

Leben auf dem Dorf?“ Gut zwei Drittel der antwortenden

jungen Leute bevorzugten das Leben auf dem Land!

Was sind die Gründe für eine derart starke emotionale Orts-

bezogenheit? Bei unseren Umfragen in Elsoff wurde jeweils

die Frage gestellt, welche ortstypischen Merkmale oder Um-

stände bei einem eventuellen Wegzug aus Elsoff wohl am

meisten vermisst würden. Eindeutig an erster Stelle stand

„Die starke emotionale

Bindung an das Dorf

fördert die Bereitschaft

vieler Dorfbewohner,

jetzt oder später

etwas für den eigenen

Ort zu tun.“