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Zum Hofe 43 Verkehr ihnen aufbürdet, nur wenige Jahre gewachsen, dann werden sie weiterverkauft an Gewerbe mit leichterer Last oder kehren für ihre letzten Jahre zurück aufs Land. Stadtpferde rücken im Alter von fünf Jahren ein und haben eine durchschnittliche Lebensdauer von zehn Jahren. Das gilt für Omnibuspferde; Trampferde sind schon nach vier Jahren erledigt. 4 Für viele kommt das Ende schon früher durch dauernde Lahmheit, ein tristes Schicksal, das die Kugel des Veterinärs beschließt. … Der steigende Verbrauch an Pferden, den die Ausweitung und Mechanisierung des städtischen Verkehrs nach sich zieht, verändert auch das Verhältnis der Stadt zum umlie- genden Land. Nicht länger nur Lieferanten von Gemüse, Fleisch und Milch für den Konsum der menschlichen Popu- lation der Stadt, sehen sich die Bauern im Umland der Städte im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend in die Er- nährung und Zucht von Pferden eingespannt: In den Erfor- dernissen der Pferdewirtschaft entdecken sie neue, lukrative Geschäftszweige. … Geschwindigkeit ist zum wich- tigsten Faktor der Ökonomie geworden, Zeitersparnis gleichbleibend mit Gewinn. Dank seiner Schnelligkeit kann das Pferd wettmachen, was ihm der Ochse an Zugkraft und Genügsamkeit voraushat. Den von jetzt an beständig wach- senden Bedarf an Pferden deckt eine ebenfalls steigende Zahl an Gestüten und Höfen, die sich auf Pferdezucht spe- zialisieren. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts steht die Pfer- dezucht im Mittelpunkt des Agrarsystems der meisten europäischen und nordamerikanischen Länder. Kein ande- res landwirtschaftliches Produkt, ob Fleisch, Getreide oder Wolle, hat einen vergleichbar hohen systemischen Wert. Das Pferd liefert etwas, was für die Ökonomie der Moderne wichtiger und elementarer sein wird als Eiweiß, Kohlehy- drate oder Textilien, es liefert Energie. … Die Energiemaschine Pferd liefert die Traktionsenergie, die das moderne Transport- und Verkehrssystem, namentlich in den expandierenden Städten, voraussetzt. Freilich hat die Zähmung und Züchtung eines zweiten habilen Tiers neben dem Homo habilis auch ihren Preis, sie hat soziale und technische Voraussetzungen. … In einem heute kaum noch vorstellbaren Ausmaß besteht die Stadt des 19. Jahr- hunderts aus Pferdeställen, deren häufig nachlässige Bau- weise, meist aus Holz und Backstein, Gefahrenquellen sowohl für die sanitären Verhältnisse wie für die Feuersi- cherheit der Stadt darstellt. 5 … Ebenso wie die Kutscher- häuser samt zugehörigen Remisen, die sich bis heute in manchen Hinterhöfen von Stadthäusern erhalten haben, waren auch die Ställe meist hinter den Häusern oder im Zentrum von Häuserblocks untergebracht; die meisten waren ein- bis zweistöckig, vereinzelt kamen bis zu vier- stöckige Pferdeställe vor. Im größten Londoner Omnibus- depot in Farm Lane standen 700 Pferde auf zwei Stockwerken um einen riesigen quadratischen Innenhof. 6 In der Stadt diente der Pferdegebrauch im Wesentlichen zwei Hauptzwecken, dem Lastentransport und der Beför- derung von Personen. Das rasche Wachstum der Städte Westeuropas und Nordamerikas weckte den Bedarf nach public transportation, das heißt preiswerten und pünktlich auf festgelegten Strecken verkehrenden öffentlichen Ver- kehrsmitteln. Die von Pferden gezogenen Omnibusse, die in Paris seit Mitte der 1820er Jahre, in London seit den 1830ern zirkulierten, drangen gleichzeitig auch in Amerika vor; bereits 1833 wurde New York als „City of Omnibuses“ apostrophiert. 7 Noch im selben Jahrzehnt eroberte das neue Verkehrsmittel praktisch das gesamte urbane Stra- ßennetz der Vereinigten Staaten. Die oben abgedruckten Textaus- züge stammen aus dem Buch „Das Jahrhundert der Pferde“, geschrieben von Ulrich Raulff, erschienen im Verlag C. H. Beck (Taschenbuch-Ausgabe, 2018). 1 Vgl. C. McShane and J. A. Tarr, The Horse in the City. Living Machines in the Nine- teenth Century, Baltimore 2007, S. 16 2 So im Jahr 1866, zit. nach M. G. Lay, Die Geschichte der Straße. Vom Trampelpfad zur Autobahn, Frankfurt am Main 1994, S. 149 3 Vgl. M. G. Lay, ebda. F. Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadt- geschichte seit 1850, spricht von den „schier unvorstellbare(n) Mengen von Pfer- dedung“, die die Straßen bedeckten, solange die Omnibusse und Straßenbahnen noch von Pferden gezogen wurden (S. 168). 4 Vgl. W. J. Gordon, The Horse World of London, London 1893, S. 24 f. 5 Vgl. McShane and Tarr, The Horse, S. 103 ff. 6 Vgl. Gordon, Horse World, S. 19 7 Vgl. McShane and Tarr, The Horse, S. 59

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