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Zwischen Skandal und Überlast

Interview mit
Dr. Mark Lohmann (BfR) (qualitas Winter_2023)

Jede zweite Probe belastet oder Studie schlägt Alarm: Belastung einiger Obst- und Gemüsesorten als ‚besonders gefährlich‘ eingestuft: Solche Berichte gibt es immer wieder. Dr. Mark Lohmann vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) über die Lust am Skandal und die Möglichkeiten und Grenzen der Risikokommunikation.

Dr. Mark Lohmann ist promovierter Biochemiker und Leiter der Fachgruppe „Risikosoziologie und Risiko-Nutzen-Beurteilung“  beim BfR. Bildquelle: Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR)

Dr. Mark Lohmann ist promovierter Biochemiker und Leiter der Fachgruppe „Risikosoziologie und Risiko-Nutzen-Beurteilung“ beim BfR. Bildquelle: Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR)

Herr Lohmann, Ihr Institut befasst sich unter anderem mit Risikobewertungen für Pflanzenschutzmittel. Regen Sie sich angesichts solcher Meldungen noch auf oder gehört so etwas für Sie zum Tagesgeschäft?

Dr. Mark Lohmann: Mein Puls bleibt bei solchen Meldungen im Normalbereich. Denn bei der Wahl solcher Überschriften ist klar, es geht in der Berichterstattung ja primär nicht um Information, sondern einzig darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Medien verstärken Wahrnehmungsmuster, weil sie antizipieren, was die Menschen interessieren könnte. Das beginnt schon bei den Überschriften. Jedes Thema kann per Überschrift ohne weiteres überdreht und skandalisiert werden und damit interessant gemacht werden. Der emotionale Eigenbezug wird durch Verwendung bestimmter Adjektive hergestellt. Ein Beispiel: Jetzt auch Dihydrogenmonoxid in Babynahrung aus Deutschland festgestellt – und dazu die Information: Dihydrogenmonoxid ist eine von der Industrie routinemäßig eingesetzte Substanz, es wird in Flüssen und in der Nahrung gefunden, es ist Hauptbestandteil von saurem Regen, die versehentliche Inhalation kann tödlich sein und es wurde bei Patienten mit Krebs im Endstadium gefunden. Das ist doch schon ein großer Aufreger, besonders dann, wenn man der Meinung ist, dass Wasser – nichts anderes ist Dihydrogenmonoxid – eine gesundheitsschädigende Kontaminante in Babynahrung sei. Diese Zuspitzungen und Überinterpretationen funktionieren mit Ernährungsthemen sehr gut, denn mit dem Essen spricht man eine hochemotionale Erlebenskomponente an.

 

Warum funktionieren solche Mechanismen bei einer doch sonst auch sehr medienkritischen Öffentlichkeit?

Lohmann: Diese Mechanismen folgen der Theorie der kognitiven Dissonanz. Demnach nehmen Menschen möglichst nur Informationen auf, die gleichbedeutend zu den bereits bekannten Informationen und bestehenden Einstellungen sind. Dissonante Botschaften führen zu Abwehrmechanismen, um die bestehenden Einstellungen bewahren zu können. Eine Person, die schon immer große Sorgen gegenüber Pflanzenschutzmitteln hatte, wird solchen Berichterstattungen mehr Glauben schenken als eine Person, die sich nicht für Ernährungsthemen interessiert oder nach dem Kölsche Gesetz lebt: Et hätt noch emmer joot jejange.


Welche Mittel haben Sie dagegen?

Lohmann: Basierend auf wissenschaftlichen Daten aufzuklären, was hinter den Befunden steckt, ist dabei die zentrale Aufgabe des BfR im Rahmen seiner Risikokommunikation. Dazu gehört die Beantwortung der Fragen, in welcher Menge und Häufigkeit das Pestizid wo gefunden wurde, inwieweit die analytische Methode sachgemäß angewandt wurde und reproduzierbar ist und welcher Einfluss auf die Gesundheit zu erwarten ist. Diese Informationen dienen dann als Grundlage der Risikocharakterisierung, mit der das gesundheitliche Risiko für den Menschen abgeschätzt wird. Das Ergebnis dieser Bewertung wird dann unter der weniger schreienden Überschrift Bewertung von gesundheitlichen Risiken von Pestizidrückständen auf xy veröffentlicht.

 

Viele der genannten Medienberichte stützen sich auf Studien von Öko-, Bio- und Umweltverbänden. Wie schätzen Sie solche Studien in Hinblick auf eine objektiven Verbraucherinformation ein?

Lohmann: Grundsätzlich kommt es immer zu Verzerrungen in der Kommunikationskette, wenn es um die Veröffentlichung von Studienergebnissen geht: Vom Laborexperiment über die Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift bis hin zu Nachrichtenberichten. Sobald eine Institution in irgendeiner Abhängigkeit steht, begibt sie sich in ein System, in dem sie animiert wird, ein positives Ergebnis in ihrem Sinne zu erzielen. Es ist offensichtlich, dass gerade bei NGOs, die mit Kampagnen und der Strategie der Skandalisierung arbeiten, um mediale Aufmerksamkeit zu erzielen, diese Verzerrung extrem stark ist.

 

Verfolgen solche Studien nur dieses eine Ziel?

Lohmann: Auch Studien von NGOs können einen wertvollen Beitrag zum Erkenntnisgewinn und für den Verbraucherschutz liefern. Es ist jedoch einiges an Zeit und Know-how nötig, um generell die Qualität von Laboranalysen und Studien wissenschaftlich einschätzen zu können. Um die Frage zu klären, welche Studie eine so hohe Qualität hat, dass man sie für eine gesundheitliche Bewertung heranziehen kann, gibt es internationale Richtlinien, deren Einhaltung größtenteils eine kostenintensive Infrastruktur fordert. Natürlich haben auch Studien, die nicht vollständig nach diesen Richtlinien durchgeführt wurden, ihre Berechtigung. Nur muss man genau hinschauen, wo es Abweichungen in Bezug auf Standards und Qualitätsgüte gibt, wie relevant sie sind und welche Ergebnisinterpretation zulässig ist. Ein weiteres Problem der Ergebnisverzerrung ist der sogenannte Publikations-Bias: Studien, die zu interessanten Ergebnissen kommen, werden eher veröffentlicht als solche, die es nicht tun. Wenn sich also zum Beispiel zwei Untersuchungen mit Pestiziden und Krebs befassen und nur eine davon auf einen Zusammenhang stößt, so ist es wahrscheinlicher, dass diese Arbeit veröffentlicht wird.

 

Besteht nicht sogar die Gefahr, dass Lebensmittel wie Obst und Gemüse, die für eine ausgewogene Ernährung wichtig sind, diskreditiert werden?

Lohmann: Davon würde ich jedoch nicht ausgehen. Es entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten eine intensive mediale Ernährungskommunikation, die eher auf rationaler Ebene die Verunsicherung steigerte, den emotional und auch Preis gesteuerten Lebensmittelkonsum aber wenig beeinflusste. Unsere eigenen Wahrnehmungsstudien dazu zeigen, dass die Medienberichterstattung über Pflanzenschutzmittel-Rückstände zu einer kritischen Einstellung der Verbraucherinnen und Verbraucher gegenüber Pflanzenschutzmitteln führt. Das Handeln wird jedoch nur in geringem Maße oder vorübergehend beeinflusst.

 

Welche kommunikativen Maßnahmen wären aus Ihrer Sicht dafür geeignet, um Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu informieren?

Lohmann: Der Effekt einer reißerischen Berichterstattung ist eher kurzlebig. Aber es ist schon richtig, die aktuelle Kommunikationspraxis erzeugt in weiten Teilen der Bevölkerung eine erhebliche Verunsicherung. Verbraucherinnen und Verbraucher fühlen sich subjektiv schlecht informiert und möchten mehr über Pflanzenschutzmittel wissen. Die zunehmenden Informationsbedürfnisse resultieren vor allem aus immer komplexeren und unübersichtlicheren Prozessen in der Nahrungsmittelkette sowie aus Verbraucherverunsicherungen. Aber auch die Verbraucherinformation selbst mit ihren vielfältigen Absendern, Inhalten und Wegen ist äußerst heterogen und komplex. Hinzu kommt, dass es keine einheitliche Risiko-Nutzen-Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit gibt, sondern unterschiedliche Risiko-Nutzen-Beurteilungen durch unterschiedliche Personengruppen. Dabei ist diese subjektive Beurteilung geprägt von einer Vielzahl verschiedener Faktoren wie Geschlecht, sozialer Status, Bildung und politische Weltanschauung. Unterschiedliche Informationsbedürfnisse und Formen der Informationsverarbeitung bedürfen jeweils spezifischer Informationsansätze, wobei umfangreiche Informationsangebote für einen Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher tendenziell zum Informationsoverload bei anderen Verbrauchergruppen führen.

In diesem Zusammenhang ist es nicht nur die Aufgabe der Risikokommunikation aufzuklären, sondern dazu zu animieren, Informationen kritisch zu bewerten. Hat man ein Pestizid vielleicht nicht schon deshalb gefunden, weil man es finden kann? Die chemische Analytik ist heute so weit, dass sie am Ostufer des Starnberger Sees einen Anstieg der Zuckerkonzentration nachweisen kann, wenn jemand am Westufer einen Zuckerwürfel im See auflöst. Stoffe, die möglicherweise gesundheitsschädigend sind, sind daher in fast jedem Lebensmittel zu finden. Deshalb ist unser Hauptplädoyer bei der Interpretation solcher Nachrichten: unbedingt zwischen Gefahr und Risiko unterscheiden. Gefahr bezeichnet die Schädlichkeit eines Stoffes an sich. Zum Beispiel, ob er giftig, reizend oder ätzend ist. Daraus kann eine bestimmte Wirkung resultieren, zum Beispiel eine krebserzeugende oder erbgutschädigende. Ein Risiko besteht jedoch erst dann, wenn der Mensch mit einem gefährlichen Stoff in Kontakt kommt. Dabei spielen die Dauer und Art des Kontaktes (Aufnahme über die Nahrung, die Haut oder die Atemwege) ebenso eine Rolle wie die Menge des Stoffes. Somit sollten die Fragen lauten: Wieviel wurde gefunden? Wurde für die Substanz ein gesundheitlicher Richtwert überschritten? Welche Auswirkung kann die Substanz in der gefundenen Menge auf meine Gesundheit haben? Natürlich wird man nicht bei allen Menschen tiefsitzende Vorurteile und Ängste beseitigen können. Die Selbsterkenntnis, dass das eigene Urteil stetig hinterfragt werden sollte, ist ein wichtiges Anliegen der Risikokommunikation, mehr noch als die reine Informationsvermittlung.

 

Der Aufwand der amtlichen Lebensmittelüberwachung und von Qualitätssicherungssystemen wie QS ist enorm. Wieso erhalten diese Auswertungen nicht die mediale Aufmerksamkeit wie die Studien von Öko-, Bio- und Umweltverbänden?

Lohmann: Ganz einfach, die amtlichen Auswertungen unterliegen zahlreichen Qualitäts- und Berichtsnormen, die sie umfangreich, komplex und im Ergebnis meist unspektakulär machen. Denn Gesundheitsbeeinträchtigungen bei Verbraucherinnen und Verbrauchern durch Pflanzenschutzmittelrückstände auf Lebensmitteln, die korrekt, d.h. wie in der Zulassung festgelegt, eingesetzt und verwendet wurden, sind uns nicht bekannt. In den gemeldeten Vergiftungen, die bei uns am BfR und seinen Vorläuferinstitutionen seit mehr als 30 Jahren gesammelt und dokumentiert sind, werden Sie keinen derartigen Fall finden. Übersetzt in die Sprache der Medien bedeutet es, die Berichte der amtlichen Lebensmittelüberwachung haben keinen Nachrichtenwert. Öko-, Bio- und Umweltverbände können Sachverhalte ohne Gefahr eines Reputations- und Vertrauensverlustes deutlich komplexreduzierter kommunizieren und Befunde abseits der Norm dramatisch überinterpretieren, ja sogar katastrophisieren. Auf diese Art und Weise bekommen Narrative häufig mehr Gewicht als die amtlichen Überwachungsergebnisse. Besonders problematisch wird es, wenn dann nur noch demjenigen vertraut wird, der mit dem Megaphon unterwegs ist und wenn insbesondere Regulierungsentscheidungen auf der Grundlage von verzerrten Daten getroffen werden. Das kann sogar letztendlich dazu führen, dass wir auf technische Möglichkeiten und innovative Entwicklungen verzichten müssen.

 

Wie kann man aus kommunikativer Sicht Verbrauchern und Journalisten verständlich klarmachen, dass Pflanzenschutzmittel hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Mensch und Umwelt ein strenges, unabhängiges Zulassungsverfahren durchlaufen und die Dosis das Gift macht?

Lohmann: Der gesamte Komplex der Risikobewertung wird bei Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffen, bewusst oder unbewusst, in der öffentlichen Diskussion und somit auch in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mit der notwendigen Klarheit, Einfachheit und Sachlichkeit kommuniziert. Das beginnt schon beim grundlegenden Verständnis von Gefahr und Risiko, macht aber auch vor der Darstellung des Themas Grenzwerte nicht Halt und ist damit in der Tat für Laien nicht einfach zu verstehen und einzuschätzen.

Einerseits haben wir Grenzwerte wie die Rückstandshöchstgehalte oder Rückstandshöchstmengen, die regeln, was verkehrsfähig ist und, im Falle einer Überschreitung, was nicht. Diese Grenzwerte haben häufig nur wenig mit gesundheitlichen Risiken zu tun und sind oft um ein Vielfaches niedriger als die Werte, bei denen gesundheitliche Auswirkungen zu erwarten sind. Anderseits haben wir tatsächlich auf die Gesundheit bezogene Grenzwerte, die wir als gesundheitsbasierte Richtwerte bezeichnen und die besagen, dass bis zu dieser täglichen Aufnahme eines Stoffes ein Leben lang keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwarten sind. Hinzu kommt ein weiterer gesundheitsbasierter Richtwert, die akute Referenzdosis, die die Aufnahmemenge beschreibt, die einmalig täglich ohne gesundheitliche Beeinträchtigung aufgenommen werden kann, aber nicht an mehreren Tagen hintereinander. Erst wenn diese Werte überschritten werden, bewegen wir uns im Bereich möglicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Diese beiden Grenzwertkategorien miteinander in Beziehung zu setzten, ist in der Tat nicht einfach, und in der öffentlichen Berichterstattung wird hierrüber äußerst selten nachgedacht und entsprechend kommuniziert.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Presseabteilung des BfR haben in der Form von Bürgeranfragen täglich mit Anfragen zu tun, in denen Ängste und Befürchtungen geäußert werden, die häufig darauf beruhen, dass die gesetzlichen Höchstgehalte mit den gesundheitsbasierten Richtwerten gleichgesetzt werden und eine Überschreitung dieser Werte ein Gesundheitsrisiko darstelle. Mit einer klaren, sachlichen Kommunikation, die die Unterschiede deutlich erklärt, auch erklärt, wie die Risikobewertung bei der Abschätzung eines Gesundheitsrisikos vorgeht und mit Beispielen arbeitet, in denen deutlich wird, wie groß der Abstand zu einem negativen Effekt auf die Gesundheit ist, kann den Bürgerinnen und Bürgern häufig ihre Angst genommen werden. Das erfahren wir aus den Antwortschreiben, die uns erreichen. Mit neuen Formen der Kommunikation über kurze Infoclips oder Infografiken versuchen wir, das Thema Gesundheitsrisiko möglichst anschaulich zu kommunizieren.


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